Die Er-wartung des „MEHR“
Ganz zu Beginn des Lebens und Lernens sind da keine Erwartungen, wie wir sie kennen. Keine Vorstellungskraft, kein fertiges Bild, … kein einflussreiches Kopfkino. Das Blatt, wenn man es so nennen will, ist noch mehr oder weniger leer. Bereit dazu gefüllt zu werden. Offen für das was kommt oder besser gesagt, kommen mag.
Und doch gibt es da etwas. Eine – wenn vielleicht auch unbewusste – Erwartung im kleinen Menschen. Die ER-WARTUNG des mehr. Ein Warten … oder eben auch das unbewusste, instinktive Wissen, dass dieses augenblickliche Dasein noch nicht alles sein kann und es da mehr geben muss. Viel mehr. Es ist diese unbestimmte Ahnung über die unendliche Vielfalt und Weite, die erst einmal begriffen werden möchte. Ein instinktives Streben nach Selbstständigkeit und Wissen und der Impuls BEGREIFEN zu wollen.
Und so schreitet das Kind von einer Eroberung zur nächsten fort, in einem unablässigen Vibrieren von Lebenskraft, das wir alle kennen und als „Freude und Glück der Kindheit“ bezeichnen.
– Maria Montessori –
Entdecken – Erkennen – Begreifen
Voller Staunen, kommt das Begreifen, das Wahrnehmen dessen, was ist. Und nach und nach sammelt das kleine Wesen genau dadurch – durch eben diese unablässige, unnachgiebige Aktivität – winzig kleine Erkenntnisse, die mit der Zeit und im Laufe vieler Jahre zu dem großen Ganzen heranwachsen.
Wenn kleine Menschen die Welt entdecken, ganz für sich, frei jeglicher Beeinflussung durch Dritte die zeigen, fördern und belehren wollen, wenn kleine Menschen einfach ihren inneren Impulsen folgen können, dann ist da ganz zu Beginn noch keine fixe Vorstellung in ihnen darüber, wie der Turm auszusehen hat, der gerade gebaut wird. Es ist kein Bild im Kopf, welches die Zeichenstriche vorgibt und noch keine Erwartung dessen was geschieht, wenn Schnee in Händen gehalten wird. Noch sind da keine Namen und damit einhergehende Bilder für Gegenstände und ihren Gebrauch, noch fehlen in vielen Bereichen die Erfahrungen, die langfristig dazu führen, dass Entscheidungen mit einer gewissen Portion an Weitblick getroffen werden.
Und so erlebt der kleine Mensch auch noch wenig Hemmschwelle um ins Tun zu Kommen. Ins Ausprobieren und Entdecken. Alles was geschieht, geschieht im Augenblick.
Das Tun des kleinen Menschen folgt dem Impuls, der Wahrnehmung, des BE-GREIFEN und VERSTEHEN WOLLENS. Ein Wollen, dem das Ausprobieren und Tun folgt und aus dem im Laufe der Zeit verschiedenen Erfahrungswerte und ein immer größer werdender Reichtum an Erkenntnissen resultiert. Zu den Erfahrungswerten und Erkenntnissen gesellen sich Bilder, die zu Worten werden.
Und all diese mitunter winzigen Details sind es, aus der sich Vorstellungskraft (ich weiß was geschieht wenn, …) und damit einhergehend auch, ERWARTUNGEN entwickeln. Erwartungen, die wiederum das Lernen und Entdecken verändern und auf ganz neue, wie auch eigene Art und Weise beeinflussen. Denn eben jene Bilder in unseren Köpfen, die Vorstellungskraft und das veränderte Begreifen von Gegebenheiten und Umständen sind es, die uns in nicht wenigen Lernmomenten an unsere Grenzen stoßen lassen. Gleichsam aber sind es auch die Vorstellungskraft und die daraus resultierenden Erwartungen, die uns entschlossen werden lassen und vielleicht genau an jenen Punkten vorantreiben, wo wir sonst vielleicht nicht weiter gehen würden. Sie sind es, die uns über uns selbst hinauswachsen und Grenzen überwinden lassen.
Ich will das aber können!
Entschlossenheit, Ärger, Wut … All diese Emotionen. Wie ein immer stärker werdender Wirbelsturm. Und ich mitten drinnen.
Es war einer dieser Augenblicke im Elternsein, in dem ich mich innerlich komplett zerrissen fühlte und das dringende Bedürfnis hatte, unserer kleinen Tochter schnellstmöglich zu helfen. Gleich wie. Obwohl ich wusste, dass es in der betreffenden Situation im Grunde keine Hilfe gab, weil sich Emotionen nun einmal nicht einfach so beseitigen lassen, Lernprozesse nicht beschleunigt werden können und ein paar beschwichtigende Worte nicht dabei helfen, die eigenen Grenzen anders wahrzunehmen oder auch anzunehmen, so wie sie im Augenblick sind.
Unsere Tochter war wütend. Schlicht und einfach wütend. Darüber, dass es ihr nicht und nicht gelingen wollte im Handstand zu bleiben. Trotz ständiger Versuche. Seit Tagen war sie im Akrobatikfieber. Brücke, Kopfstand, Handstand, Spagat, … alles wollte sie können und zwar richtig. Doch so einfach war das verständlicherweise nicht. Und jedes Mal wieder saß sie nach einigen Fehlversuchen da, frustriert und mit dicken Tränen, die ihr über die Wange rollten.
Ich will das aber können!
Immer und immer wieder schrie sie diesen Satz, der so gut zum Ausdruck brachte, was sie wollte. Der ihre Erwartungen so eindeutig wiederspiegelte und gleichzeitig ihre Wut zeigte. Über das nicht Können. Das nicht gelingen wollen. Über die ständigen Versuche und Fehlschläge.
Trost wollte sie dennoch keinen und schon gar keine Pause machen. Sie hatte keine Zeit für meine erklärenden Worte und auch keine Lust, eine Pause zu machen um wieder mehr Kraft für das Üben zu haben. Was sie wollte war – mit einem Wort zum Ausdruck gebracht – KÖNNEN.
Doch ihre Wut machte sie auch entschlossen. Ließ sie ein ums andere Mal die Tränen fort wischen und weiter üben. UNERMÜDLICH. GNADENLOS. Getrieben von ihren eigenen Erwartungen. Bis zu dem Augenblick, in dem sie uns mit einem strahlenden Lächeln ihr Können zeigte. Sie hatte es geschafft. Sie konnte ihn – den Handstand.
Irgendwann sind sie also da, die Erwartungen. In sich selbst und das eigenen Tun. In das Gelingen der einzelnen Vorhaben und mitunter gar in das genaue Erscheinungsbild dieser. Aber ist das nun gut?
Können Erwartungen uns vorantreiben?
Können sie uns dabei helfen, Grenzen zu überwinden?
Mutig zu sein?
Oder sind sie doch eher schlecht?
Können Erwartungen auch zu Stolpersteinen werden, zu einer unerträglichen Last, weil sie uns daran hindern, uns dem Augenblick hinzugeben und das was ist, wahrzunehmen? ( zum Artikel „Stolperstein Erwartungshaltung“)
Lernen, hohe Erwartungen, Wut und Frust
Wie passt das denn zusammen?
Ist natürliches, selbstinitiiertes Lernen nicht frei von solchen Momenten?
Frei von jeglichen negativen Emotionen und hoch gesteckten Erwartungen?
Von gnadenlosem Ehrgeiz, der blind und taub für die eigenen Grenzen macht?
Ist dieses selbstverständliche Geschehen von BEGREIFEN nicht frei von diesen Grenzgängen, wo ein unnachgiebiger Wirbelsturm an Emotionen den kleinen Menschen mit sich zu reißen droht?
Und sind Erwartungen nicht einfach nur etwas, was von außen kommt? Von den Erwachsenen, die etwas bestimmtes erwarten vom kleinen Menschen?
Zum einen dürfen wir erkennen, dass Lernen nicht immer in friedlicher Harmonie, vollkommener Zufriedenheit und unendlichen Glücksgefühlen stattfindet. Lernen in Form von nachhaltigem BEGREIFEN, KÖNNEN und VERSTEHEN beinhaltet alles. Gratwanderungen und Grenzgänge inklusive tosender, lauter Wirbelstürme und tränenreicher Zusammenbrüche ebenso wie unendliche Glücksgefühle und vollkommene Zufriedenheit. Letzteres finden wir – alleine für sich auftretend – hauptsächlich im Babyalter. In einer Zeit, wo Vorstellungskraft und Erwartungen noch in weiter Ferne liegen und wie oben beschrieben, vieles noch keinen Namen hat. Wir finden es da, wo das Tun noch dem Impuls des Augenblicks folgt und das Staunen über den in sich zusammenfallenden Turm noch ebenso groß ist, wie die Freude darüber, wenn er stehen bleibt.
Zu gerne wollen wir natürlich glauben, dass Lernen an und für sich ein friedlicher Prozess ist. Einer, in dem es keine quälenden Erwartungen gibt. Doch würde Lernen dann auch noch Wachstum bedeuten?
Wenn wir kleine Menschen in ihrem Tun beobachten, dürfen wir recht schnell erkennen, dass Lernen nur ganz zu Beginn, frei jeglicher Erwartungen und den damit einhergehenden Emotionsstürmen ist. Gleichsam dürfen wir aber auch erkennen, dass Vorstellungskraft und Erwartungen es sind, die ein beständiges und fortwährendes Voranschreiten erst möglich machen. Erst durch sie trauen wir uns Grenzen zu überwinden, nach Fehlschlägen wieder aufzustehen, aus Misserfolgen zu Lernen und durch Wut und Frust über uns hinaus zu wachsen.
Sofern es unsere Erwartungen und Vorstellungen sind, in und mit denen wir uns bewegen.
Denn wir dürfen auch Erkennen, dass es gerade die Erwartungen der Umgebung sind, die Lernprozesse beeinflussen, blockieren und auch zerstören können.
Nur das Beste!Und doch nicht wirklich gut … oder hilfreich, könnte man sagen.
Wenn Vorstellungskraft und Erwartung in sich selbst und ein mögliches Ziel vor Augen, den kleinen Menschen vorantreiben können, wie ist das dann mit den Erwartungen, die Eltern bzw. Erwachsene generell in das Lernen, Erfahren, Begreifen und Entdecken kleiner Menschen haben?
Wie ist das mit diesen bewussten oder auch unbewussten Erwartungen, die da sind?
Fühlbar, für den jungen Menschen der mitten in seinen Lernprozessen steckt, Erfahrungen sammelt und Entdeckungen macht? Der Rückhalt in Form von Vertrauen ebenso benötigt, wie Zurückhaltung um eigene Erfahrungen machen zu können.
Erwartungen die von außen kommen, gerade dann wenn sie von Menschen kommen zu denen eine enge Bindung besteht, können beeinflussen. Positiv wohlgemerkt, wie auch negativ.
Positiv, weil ein „Ich glaub an dich! Ich bin mir sicher, dass du das schaffst und einen Weg findest!“stärkt und ermutigt, weiter zu gehen, wenn es aufrichtig und ehrlich gemeint ist und für den Lernenden, dadurch der Rückhalt gegeben ist, den er braucht um vorhandene Grenzen zu überwinden.
Negativ, weil ein „Jetzt stell dich nicht so an, das ist doch nicht so schwer!“ seelischen Druck erzeugt. Druck, der es dem jungen Menschen schwer macht, sich selbst und dem eigenen Empfinden zuzuhören, es wahrzunehmen und dementsprechend zu handeln. Negativ, weil überfordernde Erwartungen („Wenn es nur wollen und sich ein wenig anstrengen würde, dann könnte es doch“) den jungen Menschen in seinem Entdecken und Begreifen entmutigen, in ihm ein Gefühl der Leere und Bedeutungslosigkeit hinterlassen und ihn daran hindern, Schritt für Schritt weiter zu gehen, den eigenen Impulsen zu folgen und die eigenen Bilder, Vorstellungen und Erwartungen real werden zu lassen.
Wir können einen kleinen Menschen in seinen Lernprozessen bestärken. Ihn durch unser Vertrauen in ihn und die positiven Erwartungen ein Gefühl der Sicherheit geben, welche ihn weitergehen und probieren lassen – gerade in intensiven Lernphasen, wenn Gratwanderungen und Grenzgänge durchlebt werden. Gleichsam können wir ihn natürlich auch – oder leider – schwächen. Durch negative Erwartungen und fehlendes Vertrauen.
Innen und außen
Einmal mehr geht es bei den Erwartungen und ihrem Wirken um das Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Um das Innen und das Außen.
Welche Bilder, Vorstellungen und Erwartungen in einem Menschen entstehen und prägend auf sein Tun wirken hängt zum einen von seinem individuellen Sein und zum anderen davon ab, welche Erfahrungen im unmittelbaren Umfeld im Laufe des Heranwachsens gesammelt werden können und ob er durch positive oder negative Erwartungen begleitet wird.
Die daraus resultierenden Handlungsmuster sind es, die unser Lernen, Erfahren und Begreifen ebenso beeinflussen, wie das Meistern von Herausforderungen. Sie sind es, die im Endeffekt dazu führen wie wir voranschreiten und ob Erwartungen zu unserem Antrieb oder unserem Stolperstein werden. Ob wir in der Angst verharren „zu viel“ zu erwarten oder uns in der freudigen ER-WARTUNG der Vielfalt und dem Wissen alle Möglichkeiten offen zu haben beständig weiter bewegen.
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