Manches braucht einfach Zeit
Einmal mehr möchte ich hier unsere eigenen Erfahrung mit euch teilen. Nicht zuletzt, weil mich gerade in den letzten Wochen vermehrt Fragen erreicht haben zum Thema Schüchternheit und Zurückhaltung und was man dagegen tun oder wie man dem kleinen Menschen dabei helfen könnte diese zu überwinden.
Dabei sind weder Schüchternheit noch Zurückhaltung Charakterzüge, die man einfach so beiseite schieben könnte und schon gar nicht abnormal. Ganz im Gegenteil. Manches braucht einfach seine Zeit …
Ist doch logisch …
Ist doch logisch, dass euer Kind so schüchtern ist …
… wenn ihr ständig seine Bedürfnisse erfüllt.
… wenn ihr es ständig im Tragetuch habt.
… wenn ihr es nicht in Fremdbetreuung gebt.
… wenn ihr ihm nicht einmal die Chance gebt, die Schüchternheit zu überwinden.
… wenn ihr ihm nicht ein wenig zu seinem Glück verhelft …
Nein, eigentlich ist es nicht logisch. Aber gut. Geglaubt wird das dennoch oft und gerne. Ein schüchternes, zurückhaltendes junges Wesen passt irgendwie nicht ins Bild und kann, der recht verbreiteten Meinung nach nur das „Verschulden“ der Eltern sein.
Eng gesteckte Grenzen
Als unsere Älteste klein war, bekamen wir oben stehende Sätze relativ oft zu hören. Sie war schüchtern und zurückhaltend. Von Beginn an.
Ihre Blicke Fremden gegenüber schwankten bereits als Baby zwischen vorsichtiger Skepsis und ablehnender Zurückhaltung. Fremden war es unmöglich, ihr auch nur ein winziges Lächeln zu entlocken und meist verstecke sie sich ziemlich schnell hinter oder bei uns. Sie hatte schlicht und einfach kein Interesse. Und so richtig wohl fühlte sie sich nur dann, wenn der Rahmen überschaubar blieb. Für sie.
Und dessen Grenzen waren gerade in ihren ersten Lebensjahren sehr eng gesteckt.
Schüchtern, zurückhaltend, vorsichtig, …
Anders als ein paar Jahre später ihr Bruder, der jedem mit einem breiten Grinsen im Gesicht begrüßte und offen und zugänglich war, waren ihr Spielplätze dann am liebsten, wenn sie leer waren. Und jedes Mal wieder, wenn wir einen Versuch starteten um ein Eltern-Kind-Treffen oder eine Turngruppe zu besuchen, erlebten wir das gleiche Szenario.
Ein kleines Mädchen, das dem ganzen Trubel mit großer Skepsis und einem noch größeren Sicherheitsabstand zusah und erst dann bewegungs- und spielfreudig wurde, wenn der Raum leer war.
Nicht, dass es da nicht auch Menschen in ihrem Umfeld gegeben hatte, bei denen sie offen, fröhlich und lustig gewesen war, der Prozess bis dahin, war jedoch meist ein sehr langer gewesen.
Nichts desto trotz: Der Vorwurf, ihr Verhalten wäre unserer (bedürfnisorientierten) Begleitung und dem fehlenden Besuch eines Kindergartens geschuldet, ließ damals natürlich nicht lange auf sich warten. Gewürzt wurde dieser noch von der immer und immer wieder kehrenden Empfehlung, dass wir sie doch nur ein wenig drängen und ihr ein bisschen mehr zu ihrem Glück verhelfen müssten …
Zum Glück haben wir ihr nicht zu ihrem Glück verholfen.
Natürlich gab es sie immer wieder, die Situationen, in denen sich leise Zweifel in uns regten, ob wir am richtigen Weg wären und ob wir nicht doch …
Doch was wäre die Konsequenz möglicher Interventionen unsererseits gewesen?
Ein kleines Mädchen, dessen Urvertrauen wir zur Befriedigung anderer missbraucht und dem wir – durch unser agieren – jegliche Rückversicherung entzogen hätten.
Und ein kleines Mädchen, dem wir das Gefühl gegeben hätten irgendwie falsch zu sein.
Das widersprach allem, was uns für unsere Bindungsbeziehung wichtig war. Und es widersprach dem, was wir in unseren Herzen fühlten.
Das kleine schüchterne und zurückhaltende Mädchen von damals wird in wenigen Wochen 16 Jahre alt und hat sich im vergangenen Jahr, nach all den Jahren zu Hause nicht nur für den Schulbesuch, sondern auch für das Internatsleben entschieden. Ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken.
Dieses junge Mädchen, welches vor all den Jahren nicht einmal auf den Spielplatz wollte, wenn dort ihr unbekannte Kinder spielten, genießt heute das Internatsleben in vollen Zügen, stellt sich ohne zu Zögern neuen Herausforderungen und managt sich das meiste, was für ihren Schulbesuch nötig ist, selbst. Und jedes Mal wieder, wenn so eine neue Situation auftaucht, verblüfft sie mich mit ihrem Mut und ihrer Zielstrebigkeit.
Manches braucht einfach Zeit ….
Ja, manches braucht einfach Zeit.
Vertrauen lässt sich nicht dadurch aufbauen, indem wir es missbrauchen oder gar zerstören. Und Entwicklungen brauchen nun einmal ihre ganz individuelle Zeit. Daran können wir nichts ändern. Wir können nur DA sein und begleiten.
Und genau dazu möchte ich euch ermutigen. Jedes Mal wieder, wenn ihr auf euer zurückhaltendes und schüchternes Kind blickt. Jedes Mal wieder, wenn ihr vom Außen das Gefühl vermittelt bekommt, euer Kind sei nicht richtig, so wie es ist.
Dann bleibt einen Augenblick lang stehen, betrachtet dieses wundervolle zauberhafte Wesen vor euch. Betrachtet all das, was es an Potentialen und Geschenken mit sich bringt und lasst euer Herz entscheiden, welches der richtige Weg für euch ist.
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