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Stolperstein „Erwartungshaltung“

Stolperstein „Erwartungshaltung“

Was ist es eigentlich, das uns auf der einen Seite antreibt und auf der anderen Seite blockiert?
Was verzerrt die Selbstwahrnehmung dermaßen, dass wir oftmals gar nicht mehr so recht wissen, wer dieses ICH ist und was es eigentlich brauchen würde?

Unser Leben ist bunt.
Vielfältig und lebendig und so voller Möglichkeiten … und dennoch oft, in unseren Gedanken und Köpfen, unserem Tun und Agieren so leer und klein. Nicht, weil es wirklich so wäre. Nicht, weil wir das „falsche“ Los gezogen haben, irgendwann, als wir uns als kleine Seele auf den Weg gemacht haben.
Nein, sondern weil wir gelernt haben, klein zu bleiben und dennoch irgendwie beständig nach Erfolg zu streben, der wie die berühmte Karotte, die wir nie erreichen werden, vor unserer Nase baumelt.

Woran denken wir beispielsweise, wenn wir abends, den Tag Revue passieren lassen?

Denken wir an all die Dinge, die wir geschafft haben?
Mit einem Lächeln und voller Zufriedenheit, selbst dann, wenn es vielleicht nicht so viel war, wie wir uns vorgenommen haben?
Denken wir an die kleinen Wassertropfen am Fenster, in denen sich die Sonne gespiegelt hat, an den strahlenden Regenbogen der uns am Nachhauseweg vom Himmel entgegen gelacht hat?
An das freundliche Lächeln der älteren Frau, die uns auf unserem Weg begegnet ist?
Das nette Gespräch mit dem Nachbarn, …?

Oder gehen wir in Gedanken unsere To-Do Listen durch und markieren all die Punkte dreifach rot unterstrichen, die wir nicht geschafft oder unserer Meinung nach „schlecht“ gemacht haben?
Nagt vielleicht gar das schlechte Gewissen an uns, weil wir uns erlaubt haben, den Abend etwas früher enden zu lassen, um noch ein wenig Zeit zum Entspannen zu haben?
Ärgern wir uns über uns selbst, weil wir es wieder einmal nicht erreicht haben, unser SOLL zu erfüllen?

Selbstkritik und hohe Erwartungshaltung
Uns fortwährend in diesem Kreislauf aus Selbstkritik, hoher Erwartungshaltung, Druck und gelegentlicher Frustration zu bewegen, scheint uns wesentlich leichter zu fallen, als mit einem Lächeln auf unser Selbst zu blicken. Stolz darauf, welche Fähigkeiten wir in uns tragen, die (gemeinsam mit all den Eigenheiten unseres ICHs) uns im Endeffekt eigentlich zu dem Menschen machen, der wir sind.
Statt offen zu bleiben, für all die Möglichkeiten und Erfahrungen, die uns auf unserem Weg begegnen, hegen wir lieber Selbstzweifel und orientieren uns an den gültigen Maßstäben der Erwartungen, als uns selbst mit Achtung und Wertschätzung zu begegnen.
Statt an unseren Fertigkeiten zu feilen, statt jeden noch so kleinen Fehler als Herausforderung mit Lernpotential zu betrachten, heben wir lieber all die Momente hervor, in denen uns etwas nicht gelungen ist, zerpflücken die Aussagen von Kollegen, Freunden oder auch des Partners, um in ihren Reaktionen und Aussagen irgendwelche Anhaltspunkte für ihre Anerkennung oder auch Abwertung zu finden und suchen in den kleinsten Winkeln unseres Alltags nach Situationen und Momenten, wo wir die Erwartungen nicht oder nur teilweise erfüllt haben. Quasi als Bestätigung dafür, nicht genug zu tun.

Es fällt uns so viel leichter, uns an dem zu messen, was wir vollbracht oder nach den Maßstäben unserer Gesellschaft geleistet haben, als die kleinen und etwas größeren Glücksmomente zu sehen, die uns bereichern und Kraft geben für all die Herausforderungen unseres Weges. Es fällt uns so viel leichter die Erwartungen in uns selbst immer weiter nach oben zu schrauben, als die Freude wahrzunehmen die uns erfüllt wenn wir unserem Herzen folgen … Oder: die uns erfüllen könnte, wenn wir es täten.

Denn oft nehmen wir sie gar nicht mehr wahr. Die Glücksmomente. Die kleinen Augenblicke, die unser Herz vor Freude hüpfen lassen und unsere kindliche Neugierde zu neuem Leben erwecken. Stattdessen hetzen wir durch unseren Alltag, mit einem Terminkalender der überquillt und einem Kopf voller Erwartungen und Ansprüche. Wie unser Leben zu sein hat.
Wir wollen Sicherheit. Wohlstand. Zufriedenheit. Gewissheit und ja, irgendwie auch Freiheit.
Nur:
Ohne Stolpern und Hinfallen.
Ohne Hürden und Herausforderungen.
Ohne Anstrengung.
Ohne Grenzgänge und Gratwanderungen.

Schließlich ist doch nur derjenige wirklich gut und geliebt, der fehlerfrei ist?

Ist das nicht der Glaubenssatz, an dem wir, als Gesellschaft so gerne festhalten und den wir kleinen Menschen auch heute noch so oft vermitteln?
Vielleicht nicht in der Art und Weise formuliert? Vielleicht nicht gar so drastisch ausgedrückt …
Und doch irgendwie, genauso. Weil wir, als Vorbilder, genauso agieren. Weil Liebe und Zuneigung so oft an Bedingungen, an Erwartungen und an die Grenzen anderer geknüpft werden. Weil Maßstäbe, Richtlinien, Erfolg und Leistung heute so viel mehr Gültigkeit haben, als Einzigartigkeit, Glück und Zufriedenheit. Weil Wettbewerbsdenken und Konkurrenzfähigkeit weit vor dem ER-LEBEN stehen und weil es scheinbar immer darum geht, die Erwartungen zu erfüllen. Die eigenen ebenso, wie jene der anderen.
Wenn wir heute über uns sprechen, dann geht es interessanterweise selten darum, wer wir sind, sondern viel öfters darum, was wir leisten, welche Leistungen wir in unserem bisherigen Dasein schon erbracht, ob wir unsere (Lebens)Pläne bereits verwirklicht und all die Erwartungen darum herum erfüllt haben.

Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.

John Lennon

Ein Satz, der nicht besser passen könnte, zu unserem heutigen Leben, wo wir so sehr darauf bedacht sind immer das RICHTIGE zu tun und nur ja keinen Fehler zu machen oder hinzufallen.
Statt im Augenblick zu verweilen, statt uns auf das Spiel mit der bunten Vielfalt und all den darin enthaltenen Möglichkeiten unseres Lebens einzulassen, wie wir es aus unserer Kindheit (hoffentlich) kennen; statt offen und neugierig zu bleiben, selbst dann, wenn wir immer mal wieder stolpern, machen wir Pläne und spinnen darum herum unsere nicht selten extrem hohen Erwartungen.
In uns selbst, unsere Kinder, unser Leben, unsere Beziehungen und unser Tun und Schaffen. Erwartungen, mit denen wir uns einengen, uns in unseren Entfaltungsmöglichkeiten blockieren und in unserem Tun und Handeln einschränken. Erwartungen, durch die wir uns in immer kleineren Kreisen bewegen, ohne uns der eigentlichen Möglichkeiten bewusst zu sein, die um uns herum vorhanden sind und nach denen wir nur greifen müssten. 

Es ist eine ungesunde Erwartungshaltung, die wir gelernt haben einzunehmen, denn sie erzeugt Druck.
Leistungs- und Erfolgsdruck.
Sie versetzt uns in eine Art Schwebezustand, der unser Verhalten und Erleben bestimmt und dadurch wenig Raum für Spontanität und Individualität lässt. Der uns nicht nur daran hindert ab und an über uns selbst hinaus zu wachsen, sondern auch daran, die eigenen Grenzen bewusst wahrzunehmen, die Balance zu halten und den Punkt zu erkennen, wann eine Pause nötig ist oder wo wir etwas mutiger sein können. 
Ein Schwebezustand, der so häufig und zuverlässig in Enttäuschungen endet, wie auf Regen Sonnenschein folgt. 

Leben lässt sich nicht planen. Noch weniger unser ER-LEBEN.

Beide brauchen Spontanität. Beide brauchen Lebendigkeit und Vielfalt. Und beide brauchen die gelegentlichen Grenzgänge, das dazugehörige Stolpern und Hinfallen, das Aufstehen, Erkennen und Weitergehen und all die kleinen und großen Gratwanderungen und Drahtseilakte, die uns Lernen, Verstehen und Wachsen lassen. Selbst dann, wenn wir Erwachsen sind. Selbst dann, wenn wir meinen, unseren Weg gefunden zu haben. Und selbst dann wenn wir meinen, dass es da eigentlich nichts mehr geben kann … 

Leben braucht all das, um im Fluss zu bleiben. Beweglich in diesem einzigartigen Spiel des Lebens, in diesem vielfältigen Tanz mit dem Augenblick. Von dem wir im Grunde nie wissen, wohin er uns als nächstes führt und welches Tempo er wählt.

Das größte Lebenshindernis ist die Erwartung: Abhängig vom Morgen, verliert sie das HEUTE.

Seneca

Wir meinen oft, dass wir am Stolpern und Hinfallen Scheitern. Dass unser Weg da endet, wo wir in unserem Schaffen Misserfolg haben.
Doch es sind nicht die Herausforderungen, nicht die kleinen und großen Hürden, an denen wir scheitern, sondern es sind unsere eigenen Erwartungen, die uns zögern und letztendlich aufgeben lassen. Es sind nicht die möglichen Grenzerfahrungen, die uns vorsichtig machen und uns im Endeffekt an unseren eigenen Ansprüchen scheitern lassen, sondern es ist der fehlende Glauben an uns selbst. Es ist die schier übergroße Angst davor, zu SEIN, wer wir sind. Und die damit einhergehende Ungewissheit darüber, wohin unser ICH uns führt, wenn wir ihm das Ruder überlassen, wenn wir aufhören uns an Pläne und Erwartungen zu klammern und damit die Grenzen der vermeintlichen Sicherheit überschreiten. Es ist die Unterwürfigkeit vor unserer eigene Größe und den Fähigkeiten, die in uns schlummern, die uns Scheitern lässt. Und nicht die Angst davor, zu verlieren.
Berthold Brecht hat einmal gesagt:


Wer kämpft kann verlieren, doch wer nicht kämpft hat schon verloren.

Vielleicht geht es hier nicht unbedingt um einen Kampf, sondern vielmehr um das sich Einlassen auf das Spiel und den Mut zu vertrauen.
Und wenn wir authentisch, aktiv und selbstbestimmt handelnd unser Leben und Schaffen gestalten wollen, dann müssen wir uns auf das Spiel mit unseren eigenen Grenzen und auf den Tanz mit dem Augenblick einlassen. Auf mögliche Grenzgänge und Gratwanderungen, in denen wir vielleicht manches Mal auch kämpfen müssen. Mit uns selbst, unserem Vertrauen in uns selbst, unserem möglichen Stolpern und Hinfallen, unserem Mut oder auch unserer Angst. Die Freiheit aber, die wir dadurch erlangen, ist jene, die sich Leben nennt und die uns spüren lässt, wer dieses ICH ist, das uns ausmacht.

(Ebenfalls erschienen ist der Artikel in der November 2019 Ausgabe des Pippi-Magazins)

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