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Lange Weile

Lange Weile

Warum Entdecken und Entfalten gerade diese kleinen Pausen braucht, um beständig zu sein.

„Mir ist so fad“
Unser Sohn liegt auf dem Sofa und wiederholt pausenlos diesen einen Satz. Mal langezogen, mal abgehackt hintereinander, dann in Silben und alles noch einmal von vorne. Dazwischen seufzt er tief und zupft am Polster herum ….
Er ist kein Unbekannter, dieser Satz. Ich kenne ihn natürlich aus meiner Kindheit, als ich ihn selbst gesagt habe, während diese komische Kombination aus Leere und Lustlosigkeit in mir tobte und mich nichts von all dem, was noch Augenblicke davor interessant war fesseln konnte. Und ich weiß noch gut, dass ich mir damals vorgenommen habe, dass meinen zukünftigen Kindern niemals fad sein würde. In meinem kindlichen Verständnis vom Elternsein, hätte ich dann alle Macht dies zu verhindern.
Aber dann wurde ich Mama und sie kamen doch. Die Langeweile und mit ihr der dazugehörige, oben erwähnte Satz aus dem Mund der kleinen Menschen, deren Mama ich heute bin.

„Langeweile ist die Windstille der Seele.“

Nietzsche

Hat Nietzsche geschrieben und mittlerweile kann ich das genau so sehen. Nach dem Gewitter, kommt die Stille. Nach dem Sturm, die „Atempause“ , ….
Pausen, die kleine Menschen in ihrem intensiven Entwicklungs- und Entdeckungsprozess dringend brauchen um wieder zu sich zu finden und zur Ruhe zu kommen. Aber in den ersten Jahren, meines Mamaseins konnte ich all das noch nicht sehen. Zu groß waren meine Verunsicherung und der Glaube daran, etwas falsch zu machen. Die zeitweilige Langeweile unserer Kinder hat mich gestresst. Ihre plötzlich auftauchende Lust- und Antriebslosigkeit machten mich ratlos und erzeugten einen gewissen Druck in mir.

War sie okay, diese Langeweile?
Gaben wir zu wenig Angebote?
Hatten wir zu wenig Spielzeug?
War die Idee, dass sich kleine Menschen frei und selbstbestimmt bilden und frei spielen, vielleicht doch nicht so richtig?
War dieses Fehlen jeglicher Animation, vielleicht Grund für ihre Langeweile?
Sollten wir vielleicht mehr Programm bieten? Mehr Zeit investieren? Mehr animieren?
Würde diese immer wiederkehrende Langeweile vielleicht für immer verschwinden, wenn wir nur MEHR geben würden?

Ich zerbrach mir sprichwörtlich den Kopf darüber, analysierte, beobachtete und suchte nach Antworten. Nicht selten initiiert von meinem schlechten Gewissen, wenn die Langeweile mal wieder zu Besuch kam und ich darin die Bestätigung dafür sah, zu wenig zu geben. Mit ebenfalls leidendem Blick und nur halb bei meiner Tätigkeit, saß ich dann oft da und suchte fieberhaft nach Lösungen, gab Angebote oder kam mit immer neuen Ideen. Nicht selten endeten derartige Versuche in einer angespannten, unguten Stimmung.
Nach all den Jahren Mama sein habe ich gelernt sie auszuhalten, die Langeweile. Ich habe gelernt sie sein zu lassen, was sie ist und darauf zu vertrauen, dass sie ebenso wieder verschwindet, wie sie gekommen ist. Mehr noch habe ich gelernt, diesem Empfinden unseres Sohnes oder unserer Töchter Raum zu geben. Ihnen zuzuhören, sie wahrzunehmen, aber nicht (mehr) zu agieren. Das war ein ziemlicher Lernprozess für mich und es hat gedauert, bis ich erkannte, wie wertvoll diese Phasen der langen Weile eigentlich in Wahrheit sind. Wie zuverlässig sie die, vom Spielen und Entdecken aufgewühlten kleinen Wesen wieder zur Ruhe kommen lassen und wie wichtig sie für Entwicklungsprozesse und das Lernen an sich sind.

Zwei Paar Schuh´
Langeweile ist nicht gleich Langeweile. Wenn wir von Langeweile sprechen, dann braucht es zunächst einmal die Unterscheidung, über welchen Gemütszustand wir da eigentlich sprechen. Denn zwischen der eigentlich sehr natürlichen langen Weile, die häufig intensiven Beschäftigungsphasen folgt und der doch recht unnatürlichen,  andauernden Lust- und Antriebslosigkeit, als Folge fortwährender Animation, die gerade von Jugendliche in unserer Gesellschaft häufig empfunden wird, liegen Welten.
Letztere hat im Grunde nichts mit der natürlichen, phasenweise auftretenden Langeweile zu tun, sondern ist meist eine Art Hilferuf oder auch Schockstarre in die Heranwachsende verfallen, wenn ihnen jeglicher Raum für selbstinitiiertes Entdecken und Spielen durch ständige Anregung, Forcierung und Animation genommen wird. Wenn sie verlernt haben, aus sich selbst heraus zu TUN.
Auf den ersten Blick mag zwischen diesen beiden Gemütszuständen kein Unterschied bestehen. Deutlich wird dieser aber vor allem dann, wenn man einen Blick ins Innere und auf die Vorgängen wirft, die bei diesen unterschiedlichen Zuständen im Organismus ablaufen.

Selbstregulationsmechanismus
Das eigentlich Spannende an der zeitweilig auftretenden Langeweile ist, dass sie eine Art Selbstregulation darstellt. Im Optimalfall haben junge Menschen durch zuverlässige und sichere Bindung gelernt, auf ihre Bedürfnisse und Gefühle zu reagieren. Gleichsam sorgt der Organismus – genau genommen das autonome Nervensystem unter anderem – dafür, dass alles im Gleichgewicht bleibt. Ein ständiger wie auch beständiger Schwingungsprozess zwischen Spannung und Entspannung. Vorausgesetzt wir sind gesund.
Entdecken, Erleben, Ausprobieren, Erfahren, Spüren, Wahrnehmen … mit einem Wort intensives, vor allem aber auch selbstinitiiertes und selbstbestimmtes, freies Spielen, kommt einem positiven Stress- bzw. Spannungszustand gleich, bei dem die gesamte Aufmerksamkeit im Außen liegt. Ein wunderbarer und gleichzeitig unendlich anstrengender Zustand, der nur dann immer wiederkehren und nachhaltig wirken kann, wenn er von Zeit zu Zeit nachlässt und der Entspannung weicht.
Anders ausgedrückt: Nach der geballten Energie des Tuns, dem Tauchen und Baden im Erleben, braucht es die Erholungsphase. Es braucht das Innehalten, Atem holen und zur Ruhe kommen.
Je kleiner ein Mensch ist, desto dringender braucht er für dieses „zur Ruhe kommen“ einen Erwachsenen an seiner Seite, der ihm hilft und ihn begleitet. Je älter kleine Menschen werden, desto besser gelingt das aus eigenem (unbewussten) Antrieb. Das Interesse am Tun lässt nach – es wird „langweilig“, Müdigkeit oder auch andere Grundbedürfnisse machen sich bemerkbar und der kleine Mensch ist dadurch gezwungen einen Moment inne zu halten und eine Pause zu machen. Trotz der Notwendigkeit dieser Entspannungsphase aber, kann dieses plötzliche Nachlassen der Spannung, die plötzliche Leere nach dem Viel zeitweilig als unangenehm empfunden werden. Der kleine Mensch befindet sich in einem Zwiespalt zwischen dem „weiter Spielen wollen“ und der gleichzeitig vorhandenen Lustlosigkeit mit der sich Körper und Geist die nötige Ruhe holen.

Langeweile in dieser Art und Weise verschwindet meist im Laufe des Heranwachsens. Nicht, weil wir dieses „zur Ruhe kommen“ nicht mehr brauchen würden, sondern weil wir im Laufe der Zeit lernen (hoffentlich) diese Entspannungsphasen nicht nur zu genießen, sondern sie uns auch zu nehmen. Der Erwachsene mit einem guten Selbstgefühl, der müde nach einem langen Tag nach Hause kommt, nimmt sich die Zeit zum Ent- oder auch Ausspannen. Wir entscheiden uns im Erwachsenenalter ganz bewusst, für diese Leere nach der Intensität und beginnen diese Momente der Entspannung und ihre wohltuende Wirkung auf uns wertzuschätzen. Dadurch empfinden wir diese Entspannungsphase ganz anders, als im Kindesalter, als wohltuend. Mehr noch gibt es zahlreiche Momente, in denen wir uns genau dieses „NICHTS tun“ herbei sehnen. 

„Langeweile, zur rechten Zeit empfunden, ist ein Zeichen von Intelligenz.“


Clifton Fadiman

Vielleicht würde ich hier nicht unbedingt von Intelligenz sprechen. Aber die Fähigkeit im Kindesalter zeitweilig überhaupt Langeweile empfinden zu können, ist für mich heute das Zeichen einer gesunden Reaktion auf einen durchlebten Spannungs- und (positiven) Stresszustand.
Denn was tun kleine Menschen, wenn ihnen langweilig wird? Sie legen oder setzen sich an einen bestimmten Ort, baumeln mit den Füßen, starren Löcher in die Luft, seufzen tief und laut und wiederholen möglicherweise monoton, dass ihnen langweilig ist …. All das ENTSPANNT. All das bewirkt, dass sich das autonome Nervensystem in den Einflussbereich des Parasympatikus begibt und somit für einen Ausgleich und vor allem die dringend nötige Ruhe sorgt. Diese wiederum schafft Raum und Möglichkeiten, für neue Entdeckungen.

Was aber geschieht, wenn wir die Langeweile und dadurch genau diesen Prozess des „zur Ruhe kommens“ unterbinden, in der Annahme, er sei schlecht?

Wer rastet der rostet?
Langeweile hat in unserer Gesellschaft denkbar schlechte Karten. Und irgendwie kann ich sie auch verstehen, die Abneigung ihr gegenüber. Denn sie zu begleiten, ist mitunter furchtbar anstrengend, sie sein zu lassen aufgrund unserer Prägungen oftmals extrem schwer und sie zu empfinden einfach nur blöd, zumindest für den kleinen Menschen. Und dazwischen, darüber und darunter schwebt der (gesellschaftliche) Anspruch, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Zur Langeweile.
Also versuchen wir sie zu verhindern. Gleich wie. Durch Daueranimation, Spielzeug, Förderung, Motivation und wenn das alles nichts hilft, dann nicht selten durch Maßregelungen und Suggestionen. Einer Art Abwärtsspirale gleich bewegen sich viele Eltern dadurch in einem fortwährenden Kreislauf aus schlechtem Gewissen, Wut, Ärger und Daueranimation.
Doch je häufiger kleine Menschen ständiger Animation ausgesetzt sind, je mehr Reize dauerhaft auf sie einströmen, desto passiver werden sie in ihrem Tun und desto seltener finden sie in den dringend nötigen Entspannungszustand zurück. Sie verlernen aktiv und vor allem auch eigeninitiativ zu spielen und reagieren auf die fortwährende Animation und den dauerhaften Stresszustand mit zum Teil beständiger Lust- und Antriebslosigkeit – der vermeintlichen Langeweile.

Statt aber von selbst aus diesem Zustand wieder herauszufinden, wie dies bei der oben beschriebenen natürlichen Langeweile geschieht, wird sie zum Dauerzustand und nicht selten mit Medienkonsum „bekämpft“.

Sein lassen,
Tempo raus nehmen und zurück lehnen …. Tipps, die wir uns in der Begleitung junger Menschen zu Herzen nehmen sollten. Denn in unserer von Hektik und Schnelllebigkeit geprägten Zeit und der beständigen Orientierung an Leistung und Erfolg kann die lange Weile sehr wertvoll sein. Für den kleinen Menschen ebenso, wie für diejenigen, die ihn auf seinem Weg begleiten.

Der Artikel ist auch 2019 im Pippi-Magazin „Entschleunigung“ erschienen

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